Sarstedt
Mittwoch, 13.09.17 - 12:40 Uhr

Anspruch auf Betreuung in Kitas: Kreistagsabgeordnete fordern Klarheit

SARSTEDT. 

Die Kultusministerin in Niedersachsen, Frauke Heiligenstadt (SPD) behauptet, Kindergartenkinder (drei bis sechs Jahre) hätten im Gegensatz zu Krippenkinder (ein bis zwei Jahre) keinen bundesrechtlichen Anspruch auf Betreuung nach dem individuellen Bedarf und somit keinen Anspruch auf einen Ganztagsplatz im Kindergarten. Damit steht sie im Streit zum Bund.

 

Die Sarstedter Kreistagsabgeordneten Klaus Bruer (SPD) und Friedhelm Prior (CDU) wollen nun über ihre Bundestagsabgeordneten Klarheit in diese Angelegenheit bringen. Seit 1990 sind die Ansprüche auf Betreuung in Kindertagesstätten (Krippe oder Kindergarten) im Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) und somit bundesgesetzlich geregelt. Seither sollen die Länder und die von ihnen bestimmten Behörden gewährleisten, dass die zur Erfüllung der Aufgaben nach diesem Gesetz erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.

 

In der Begründung der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zum Entwurf eines der vielen Gesetzesänderungen (BT-Drucksache 16/9299 vom 27. Mai 2008) heißt es: "Die aus dieser Vielfalt der unterschiedlichen Regelungen resultierende Rechtszersplitterung kann sowohl im Interesse des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden... Vor diesem Hintergrund sind bundesgesetzliche Regelungen zum Ausbau der Kindertagesbetreuung, ..., zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich. Darüber hinaus sind die Regelungen insbesondere erforderlich zur Wahrung der Wirtschaftseinheit."

 

Derzeit ist Bundesfamilienministerin Dr. Katarina Barley (SPD) für das SGB VIII verantwortlich. Ihre Parlamentarische Staatssekretärin, Caren Marks (SPD), hat kürzlich mitgeteilt: "Die in § 24 SGB VIII geregelten Förderungen richten sich jeweils nach dem individuellen Bedarf." Daraus folgt, dass Kindergartenkinder ebenso wie Krippenkinder einen Anspruch auf Betreuung nach dem individuellen Bedarf haben - also Anspruch auf eine Halb- oder Ganztagsbetreuung. Im Gegensatz dazu behauptet nun die Landesministerin Heiligenstadt, Kindergartenkinder hätte im Gegensatz zu Krippenkindern keinen Rechtsanspruch auf Betreuung nach dem individuellen Bedarf - also keinen Anspruch auf einen Ganztagsplatz, sondern nur Anspruch auf einen Halbtagsplatz nach dem Nds. KiTaG. Danach erlischt für ein Kind mit dem dritten Geburtstag der Anspruch auf einen Ganztagsplatz. Ihre Staatssekretärin, Erika Huxhold (SPD), hatte noch vor knapp zwei Monaten schriftlich mitgeteilt, dass für Kinder im Krippen- und Kindergartenalter im Bundesrecht ein individueller Rechtsanspruch auf ein Betreuungsangebot bestehe und hinzugefügt: "Individuelle Ansprüche können für den bedarfsgerechten Betreuungsumfang daher eingeklagt werden - z. B. auch Schadensersatz."

 

Bruer und Prior, die auch Fraktionsvorsitzende der beiden großen Parteien im Kreistag von Hildesheim sind, teilen die Auffassung der Ministerin aus vielen Gründen nicht und haben ihre Bundestagsabgeordneten gebeten, nochmals eine Klarstellung durch die Bundesregierung herbeizuführen. Sie beharren seit nun schon fünf Monaten auf eine eindeutige Aussage, zumal die Landkreise auf kommunaler Ebene für die Erfüllung der Rechtsansprüche nach dem SGB VIII verantwortlich sind. Sie verweisen auf zwei wichtige Gründen für das SGB VIII. Erstens bestimme der Einigungsvertrag: "Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, angesichts unterschiedlicher rechtlicher und institutioneller Ausgangssituationen bei der Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern die Rechtslage unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten." Zweitens habe das Bundesverfassungsgericht die staatliche Pflicht ausgesprochen, bundesweit auch durch institutionelle Vorkehrungen kinderfreundliche Verhältnisse und die Grundlagen dafür zu schaffen, dass Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit aufeinander abgestimmt werden können und die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt. Diesen bundesrechtlichen Vorgaben genüge es nicht, so die Fraktionsvorsitzenden, wenn der Betreuungsanspruch von Kindergartenkindern geringer sein soll als der von Krippenkindern oder wenn der Betreuungsumfang überhaupt oder für Kindergartenkinder in den Bundesländern und dort sogar unterschiedlich festgelegt werden könne. Die Schlechterstellung der Kindergartenkinder sei rechtlich unbegründet und nicht Wille des Gesetzgebers, sie sei auch nicht mit der vom Gesetzgeber stets anzustrebenden Einheit der Rechtsordnung vereinbar.

 

Vor Jahren sei der Betreuungsunterhalt geschiedener Ehegatten grundsätzlich auf den Zeitraum von drei Jahre nach der Geburt eines Kindes begrenzt worden mit dem Hinweis (BT-Drucksache 16/6980 vom 07.11.2007): "Die Dreijahresfrist ist im Regelfall mit dem Kindeswohl vereinbar. Mit ihr wird an zahlreiche sozialstaatliche Leistungen und Regelungen angeknüpft, insbesondere also an den Anspruch des Kindes auf einen Kindergartenplatz." Man könne den alleinerziehenden Frauen jetzt nicht verkünden, der Anspruch auf einen Ganztagsplatz entfalle nach Ablauf der Dreijahresfrist.

 

Unabhängig davon stehen der Auffassung von Frauke Heiligenstadt bereits drei grundlegende Dinge entgegen. Erstens: "Bundesrecht bricht Landesrecht" (Artikel 31 Grundgesetz). Zweitens bleibt nach § 24 Absatz 6 SGB VIII nur weitergehendes Landesrecht unberührt. Und drittens hat das Verwaltungsgericht Hannover bereits mit Beschluss vom 17.07.2013 geäußert, dass die Regelungen für die Kindergartenkinder in § 12 Abs. 3 Nds. KiTaG gemäß Art. 31 GG eine unzulässige zeitlich Beschränkung des Anspruchs aus § 24 Abs. 3 SGB VIII darstelle. Zu den Krippenkindern gibt es eine gefestigte Rechtsprechung: Das Bundesverfassungsgericht stellt mit Urteil vom 21. Juli 2015 klar: "Vor allem aber ist der Zugang zu öffentlich geförderten Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder seit dem Jahr 2013 rechtlich so ausgestaltet, dass jedem Kind, dessen Eltern einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz wünschen, ein solcher Platz auch zur Verfügung gestellt werden muss.

 

Nach § 24 Abs. 2 SGB VIII besteht diesbezüglich ein einklagbarer Leistungsanspruch, der nicht unter Kapazitätsvorbehalt gestellt ist." Der Bundesgerichtshof urteilte am 20.10.2016: "Trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs hat die Beklagte - als zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe - der Tochter der Klägerin zum Ablauf ihres ersten Lebensjahres keinen Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt. Damit hat die Beklagte ihre Amtspflicht zur Erfüllung des Förderanspruchs aus § 24 Abs. 2 SGB VIII verletzt, denn in der Nichterfüllung des Anspruchs liegt zugleich die Amtspflichtverletzung ..."

 

Der Verwaltungsgerichtshof München entschied am 22.07.2016: "Nach § 24 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII richtet sich der Umfang der täglichen Förderung nach dem konkret individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner personensorgeberechtigten Eltern. Die Erziehungsberechtigten können, .., auch dann eine Halb- oder Ganztagsbetreuung für ihr Kind in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege in Anspruch nehmen, wenn sie überhaupt nicht oder nur zum Teil erwerbstätig sind, im Rahmen der Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts des Kindes (§ 5 SGB VIII) aber gleichwohl professioneller Betreuung den Vorzug geben wollen. Maßgeblich ist infolgedessen der durch die Erziehungsberechtigten definierte individuelle Bedarf, begrenzt allein durch das Wohl des zu betreuenden Kindes" (amtlicher Leitsatz). Diese Rechtsprechung, so Kultusministerin in Niedersachsen, sei auf Kindergartenkinder nicht übertragbar; Kindergartenkinder hätten keinen Anspruch auf einen Ganztagsplatz, keinen Anspruch auf Betreuung nach dem individuellen Bedarf. Diese Auffassung ist für die Eltern in Niedersachsen auch nach der Landtagswahl von Bedeutung.

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